Die Geschichte der Werraflößerei
Aus alten Dokumenten ist ersichtlich, dass, um Getreide, Eisen, Holz und andere Waren zu befördern, sich die Bewohner dieses Gebietes mit Kähnen bzw. Flößen halfen, um diese Produkte entsprechend zu transportieren.
Der Reichtum an Buchen- und Nadelholzwaldungen förderte den Holzhandel und damit die Flößerei in Wernshausen.
Große Mengen Holz wurden aus der Umgebung nach Wernshausen geschafft, um von da aus, entweder in rohem oder im bearbeiteten Zustand, zum Teil in weite Fernen gesandt zu werden.
Wernshausen liegt im Tal der Werra, durch das einer der ältesten Handelswege, die Nürnberg-Frankfurt-Straße, hindurchging.
Drei Seitentäler, das Tal der Rosa von der Rhön her und die Täler der Schmalkalde und der Truse vom Thüringer Wald her, schafften weitere gute Bedingungen. Was aber ganz besonders die Entwicklung des Wernshäuser Holzhandels begünstigte, war die Ausnutzung der Wasserstraße am Ort.
Überhaupt wird Wernshausen urkundlich zuerst in Verbindung mit dem Wasser und einzig und allein wegen des Wassers, das heißt, wegen des Flusses und der Bäche an denen es liegt, erwähnt.
Dass die Einwohner unseres Ortes schon seit Jahrhunderten die Wasserstraße der Werra zur Fortschaffung von Holzstämmen, Brettern und Scheitholz benutzt haben, ist begreiflich, da mit Rücksicht auf die üblichen Straßenverhältnisse früherer Zeiten der Wasserweg nicht nur bequemer und billiger, sondern vielfach die einzige Verkehrsmöglichkeit für den Versand von Hölzern war.
Früher wurden auch auf der oberen Werra und auf der Schleuse Dielen und Langhölzer nach Wernshausen geflößt und hier zu größeren "Werraflößen" eingebunden.
Von Wernshausen ging dann die Fahrt die Werra hinab bis Hann.-Münden an der Weser, wo immer fünf Werraflöße zu einem Weserfloß vereinigt und weiter bis Bremen geflößt wurden.
Herzog Ernst der Fromme von Gotha, zu dessen Land damals Wernshausen gehörte, ist es auch gewesen, der im Jahre 1668, als London von einer großen Feuerbrunst heimgesucht worden war, Baumstämme und Bretter aus dem Thüringer Wald von Wernshausen nach Bremen flößen und von da nach England schaffen ließ.
Auch nach dem verheerenden Brand von Hamburg im Jahre 1842 sind große Mengen von Bauholz und Brettern von Wernshausen auf dem Wasserweg und von da nach Hamburg geliefert worden.
Die älteste Erwähnung der Werraflößerei geht auf das Jahr 1563 zurück. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Geschichte der Werraflößerei viel älter ist und dass sie in ihrem Ursprung bedeutende Grundlage für das Leben der Menschen in unserem Gebiet war.
Vielleicht ist die Vermutung nicht ungerechtfertigt, dass die Bauholzflößerei in ihren Anfängen ebenso betrieben wurde, wie in den späteren Jahren die Verfrachtung des Scheit- und Brennholzes. Man warf die Stämme in die Werra und Schleuse. Leute wurden in großen Mengen aus allen Dörfern aufgeboten, um die Hölzer abzustoßen, die am Gestrüpp hängen blieben und eine Stauung zu verursachen drohten. Später fuhr man genau wie bei der Scheitholzflößerei mit einem Kahn hinter den Stämmen her und stieß sie immer wieder vom Ufer ab, bis sie an ihrem Bestimmungsort ankamen.
Als nicht mehr die notwendige Anzahl von Arbeitskräften zur Verfügung stand, blieb nichts weiter übrig, als mehrere Stämme zu vereinigen und sie werrabwärts zu befördern.
Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte hat sich schließlich aus kleinen Anfängen und Versuchen das Fahrzeug entwickelt, das seit Jahrhunderten den Namen "Werrafloß" führt.
Wenn man bedenkt, dass in anderen Ländern und Gebieten noch heute Bauhölzer auf Wasserwegen transportiert werden, so kann man die große Bedeutung erst richtig ermessen.
Sicher ist, dass die Flößerei in Wernshausen in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen ziemlichen Umfang angenommen hatte. Eine Urkunde vom 12. September 1783 nennt die Namen sämtlicher männlicher Ortseinwohner, gibt Aufschluss über ihre Beschäftigung und beweist, dass die Vorfahren unserer heutigen Flößer in dem gleichen Beruf ihr tägliches Brot erwarben. Von den 515 Bewohnern, die 1783 der Ort zählte, hatten 133 Einwohner männlichen Geschlechts einen Beruf. 33 von ihnen, also etwa 25%, beschäftigten sich mit der Verfrachtung des Holzes auf dem Wasserweg. Die Flößerei war jedoch nicht als einziger ausfüllender Lebensberuf betrieben worden. Neben dem Ein- und Verkauf der Hölzer besorgte man die Landwirtschaft, ging in Tagelohn, spielte an Festtagen zum Tanz auf und stand am Webstuhl, da die Flößerei, der Witterungs- und Wasserverhältnisse wegen, 4 Monate im Jahr ruhen musste. Die Zahl der Flößer verdoppelte und verdreifachte sich bald, aus dem Jahre 1831 berichtete eine Urkunde: "Das Hauptgeschäft ist Floßhandel, wovon sich fast das ganze Dorf ernährte."
Wernshausen entwickelte sich zum Flößerdorf. Der Höhepunkt dieser Entwicklung liegt um das Jahr 1850, als der Ort 150 Flößer beschäftigte. Hölzer aus Thüringen gingen damals von Wernshausen aus schon längst über Bremen nach Holland, wo sie auf holländischen Schiffen als Mastbäume benutzt wurden.
Die Gemeinschaft der Wernshäuser Floßhändler, die sogenannten "Floßverwandten", arbeitete um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Betriebskapital von 700.000 Gulden. Damals wurden aus den Meiningschen Waldungen jährlich mehr als 1000 Flöße mit Langholz, Bauholz, Brettern, Latten und Kanthölzern auf der Werra nach Münden und weiter weserabwärts vom Stapel gelassen.
17000 bis 20000 Festmeter Holz wurden damals von Wernshausen aus verflößt. Der Floßverkehr von Wernshausen abwärts bestand in der Zeit von März bis November eines jeden Jahres und wurde nur zur Zeit der Wiesenwässerung und bei niedrigem Wasserstand für kurze Zeit unterbrochen.
Der Flößerberuf war keineswegs gefahrlos. Manchmal blieb das Floß im Fach hängen, verschob sich oder zerschellte am Ufer und brachte seine Führer in Lebensgefahr, so dass der Flößer froh sein konnte, wenn er mit einem zerrissenen Floß und einem kalten Bad davon kam. Im strömenden Regen und an kühlen Herbst- und Frühlingstagen musste er Kälte und Nässe aushalten. Nicht selten wurde er von Nachtfrösten überrascht, wenn er spät im Herbst noch eingegangene Bestellungen erledigen wollte. Alle Bemühungen, das Floß noch flott zu machen, waren erfolglos. Er musste den Eisgang im Frühjahr abwarten, um es zu befreien und es weiter zu befördern. Viel Herzeleid ist auf diese Weise über Wernshäuser Familien gekommen. Grausam wurde manches Familienglück zerstört, wenn der Ernährer sein vorzeitiges Grab fand.
Doch auch die schönen Seiten fehlten diesem Beruf nicht. Er erzog tatkräftige, umsichtige Männer, ein starkes und kühnes Geschlecht, das vor keiner Gefahr zurückschreckte und mit Geistesgegenwart den rechten Augenblick zu nutzen wusste.
Mit dem Auf- und Niedergang der Flößerei waren die Geschicke unseres Dorfes auf das Engste verknüpft. Die Dorfflur konnte nur wenige Hände beschäftigen. Im Verhältnis zur Zahl der Einwohner war sie immer klein.
Frühzeitig musste man immer darauf bedacht sein, auf andere Art und Weise des Leibes Nahrung und Unterhalt zu verdienen. Da gewährte die Verfrachtung des Holzes auf dem Wasserweg ein sicheres Auskommen. Zur Zeit, als die Postkutsche noch unbestrittene Herrin des Verkehrs war, hatte dieser Beruf noch besondere Bedeutung für die Einwohner unseres Ortes. Sie kamen in Berührung mit der großen weiten Welt, wurden vertraut mit unserer Heimat und lernten Welt und Menschen kennen. Das Dorf gelangte nach und nach zu einem gewissen Wohlstand.
Mit dem Bau der Werrabahn ging die Flößerei merklich zurück, da der Bahnverkehr den Floßverkehr ersetzte. Nach dem 1. Weltkrieg waren zuletzt nur noch 4 Flößer beschäftigt, die ungefähr 100 Flöße jährlich beförderten. 1938 schlug die Sterbestunde für einen Beruf, der Wernshausen weit über den engeren Raum der Heimat bekannt gemacht hatte. Der Bau der Werraeisenbahn veranlasste viele Flößerfamilien aus Existenzangst ihre Heimat zu verlassen. In der Zeit von 1845 bis 1885 wanderten 620 Personen, meist Flößerfamilien, nach Amerika aus.
Heimatliebe ist stark, sie knüpft Bande, die keine Zeit, keine Entfernung und kein Alter lösen kann.
Mit welcher Treue und Wärme hängen doch die ausgewanderten Flößerfamilien im fernen Amerika an ihrer alten Heimat. Sie siedelten sich alle in einem Dorf an, erbauten sich unter schweren Opfern ein eigenes Gotteshaus nach dem Vorbild der Heimatkirche. Sie haben ihren Heimatdialekt in der Ferne noch immer behalten, gerne erzählen sie von ihrer Heimat, singen Heimatlieder, erinnern sich vergangener schöner Zeiten und wünschen sich nichts sehnlicher, als nur einmal noch das teure Heimatdorf im Thüringer Lande zu erblicken. Sie wurden echte Bürger in der Neuen Welt. Die Sehnsucht nach der alten Heimat hat sie nie verlassen.
Die Geschichte der Werraflößerei ist eng mit der Geschichte unseres Ortes verbunden. Über 400 Jahre bestimmte sie die Entwicklung Wernshausens.
Der weiteren Erforschung der Tätigkeit unserer Vorfahren gilt unsere Arbeit in den kommenden Jahren.
Die jährlich durchzuführenden Flößerfeste werden uns diesem Ziel ein Stück näher bringen.